Theorie Neuer Materialismus: Alle Daseinsformen sind gleichwertig

2022-09-09 21:14:38 By : Mr. Allen Zeng

Neulich an einer grossen Geburtstagsfeier liess sich auf beste Weise beobachten, warum gewisse Menschen alles tragen können, auch wenn sie dafür nichts ausgegeben haben. Die Feier fand draussen in italienischen Hügeln statt, und ein Wind machte die Damen in Trägerkleidchen frösteln. Aus dieser Not machte eine Frau eine Tugend, sie schlang sich einen silbrig-schwarzen, hauchdünnen Schlafsack sehr gekonnt um ihren Körper und sah damit extravagant-grossartig aus. Eine weitere Stilkönigin trug ein mintfarbenes Kleid, dessen Stoff in neckisch-lockerer Eigendynamik dem Boden entgegenfiel und so ihren ganzen Rücken freilegte. Ich fragte sie nach der Herkunft des Kleides. Die Antwort: ein altes Fixleintuch. Die beiden Frauen führten im besten Sinne vor, dass nicht die Höhe der Ausgaben bestimmt, ob frau oder man gut aussieht, sondern kreative Authentizität und vor allem: die innere Haltung. Und sie waren zudem und ganz nebenbei zukunftsweisend.

Worauf ich hinauswill: auf den «neuen Materialismus». Und auf das Wort «Nachhaltigkeit». Letzteres ist zwar abgenutzt wie ein Küchentuch, das günstig auf einem Flohmarkt erstanden wurde. Alle Firmen aller Branchen, alle Lehrinstitutionen schreiben sich das Wort auf die Fahne und meinen in Tat und Wahrheit meist sehr wenig damit. Vielleicht erfinden die Fluggesellschaften demnächst den Slogan «Wir fliegen nachhaltig». Wer lässt sich nicht gerne um den Finger wickeln, wenn die Konsequenz keine grossen Veränderungen bedeutet. Komfortzone ist irgendwie: komfortabler.

Im sogenannten «neuen Materialismus» aber kriegt die Komfortzone Risse. Jeglicher Materie wird da eine eigene Handlungsfähigkeit und Wirkmächtigkeit zugestanden; eine Vitalität, die unabhängig vom menschlichen Willen und Handeln existiert. Der «neue Materialismus» geht davon aus, dass alle Entitäten (Daseinsformen) physikalisch aus derselben Grundsubstanz bestehen. Ob Vase, Fixleintuch, Dattelpalme, Forellenfilet oder Mensch: alles gleich. Zwischen meinem Surfbrett und mir gibt es somit eigentlich keine Daseins-Hierarchie.

Wir Menschen sind gewissermassen rein zufällig kein Tischtuch, keine Pflanze, kein Sandkorn – aber wir befinden uns in ständigem materiellem Austausch mit all den Dingen, die uns umgeben. So wird die Welt zu einer, in der sich die altmodische Dualität «Subjekt (Mensch) contra alle ihm zur Verfügung stehenden Objekte (Verbrauch)» auflöst – und uns die Welt nicht mehr einfach zur freien Verfügung steht. Eigentlich.

Herbst, diese traumhafte Zeit des Blätterfalls, des schönen Lichts, der purzelnden Kastanien, der abwesenden Mücken, heisst Erntezeit: Wir holen, was wir gesät haben. Echt? Der Sommer zeigte sich doch eher apokalyptisch. Hitze, Krieg, abgebrannte Wälder, schmelzende oder abgebrochene Gletscher, gewaltige Touristenströme, Abba-Comeback, Sandstürme in China, Trockenheit in der Poebene, Medusen im Mittelmeer, Überflutungen, Autos im Vierwaldstättersee, ineinanderkrachende Schiffe, Angst vor stromloser Zukunft, Affenseuche und Vielfliegerei. Da müssten wir eigentlich langsam eine unbändige Lust auf bahnbrechende Ideen haben. Oder zumindest ein Interesse an Kreislaufwirtschaft und Endverbrauch. Egal wo, egal wann, egal mit welchem Kleid, Accessoire, Gebäude oder bei welcher Tätigkeit.

Wann ist ein Gebäude zu Ende konzipiert und zu Ende verbraucht? Wann ist eine Reise vollständig verbraucht? Wenn die Mitbringsel verteilt sind? Wenn die mitgebrachten Leckereien aufgegessen sind? Wenn man die besten Erlebnisse mehr als sieben Mal erzählt hat oder nie mehr an die Reise denkt? Oder wenn man die Namen der Ortschaften wieder vergessen hat? Wann ist ein Kleid zu Ende verbraucht? Gedankenspiele, die der Realität entgegenlaufen.

Denn da wollen und verzeichnen die Branchen weiter Wachstum. Moncler, Prada, Amazon, Hermès, Calida, Gucci sowieso. Ich bin auch daran beteiligt. Und in der «Vogue» rät Kate Moss der jüngeren Generation Folgendes: «Tragt niemals nipple pasties!» Das ist halt ein Ratschlag, mit dem man konkret und easy umgehen kann. Alles andere wäre out of comfort zone und rein in den Endverbrauch. Auch wenn wir das könnten, ich bin sicher. So lets stay tuned und fixleinbetucht.

Renata Burckhardt ist Bühnenautorin, Kolumnistin und Dozentin in den Bereichen Kunst, Literatur und Theater, u. a. an der FHNW in Basel. Zudem leitet sie Schreibworkshops an diversen Theater- und Literaturinstitutionen.

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