Longboarding in Stuttgart: Wellenreiten auf der Weinsteige - Stuttgart - Stuttgarter Zeitung

2022-05-14 03:16:53 By : Mr. Muen Machinery

Was dem Surfer die große See, ist dem Longboarder der enge Talkessel: Stuttgart ist ein ideales Trainingsgelände für Longboarder. Auf ihren überlangen Rollbrettern rasen die Könner die steilen Straßen hinunter.

Stuttgart - Stuttgart hat Qualitäten, von denen die meisten seiner Einwohner nichts ahnen. Denn für eine kleine, aber stetig wachsende Gruppe von Menschen ist es Skigebiet und Ozean zugleich. Was dem Surfer die große See, ist dem Longboarder der enge Talkessel: Er ist voller perfekter Wellen. Steil und gewaltig erstrecken sie sich in der gesamten Stadt. Der Longboarder surft mit seinem Brett über den Asphalt. Ist er nach seiner Abfahrt unten angekommen, steigt er in den Lift, also die Stadtbahn, die Zacke oder den Bus, und fährt wieder auf den Berg – und schon geht’s los mit der nächsten wilden Abfahrt.

Die 1950er Jahre: der Surf-Wahnsinn in Kalifornien ist auf seinem Höhepunkt, als die Wellenreiter auf die Idee kommen, Rollen unter ihre langen Bretter zu schrauben. Die jungen Leute wollen auch an Tagen, an denen der Ozean ruht, das Gefühl des Wellenreitens nicht missen. Bis heute ähneln die Longboards Surfbrettern. Die 90 bis 150 Zentimeter langen Bretter unterscheiden sich von normalen Skateboards aber nicht nur in den Ausmaßen. Auch das Fahrgefühl ist anders. Eine Besonderheit sind die weicheren Achsen, die eine stärkere Biegung und jene Gleitbewegungen erlauben, wie sie sonst nur Surfer kennen. Zudem haben Longboards weiche, griffige Rollen.

Sommer 2012. Eugen Forschner hat es sich auf einem Gartenstuhl bequem gemacht. Der 44-Jährige wirkt entspannt, auf dem Schoß hat er seine dreijährige Tochter, seine Freundin sitzt im Stuhl daneben. Um Forschner herum fahren vor allem junge Leute auf ihren Longboards. Sie tauschen die Bretter untereinander, probieren aus, diskutieren. Andere stehen herum, unterhalten sich, grillen, trinken etwas. Alles in allem ein sehr entspannter sonniger Nachmittag.

Eugen Forschner ist einer der Initiatoren des Projekts „Rollbrettregion Stuttgart“. Mit seinem Kumpel Uli Schwinge hat er die besten Stellen zum Longboarden in der Stadt aufgelistet: verkehrsarme Wege mit möglichst viel Neigung und möglichst wenig Split auf dem Asphalt. Die Best-of-Liste stößt nicht überall in der Szene auf Begeisterung. Schließlich ist das Skaten auf öffentlichen Straßen nicht erlaubt, beliebte Treffpunkte werden folglich nicht an die große Glocke gehängt.

Gemeinschaftsgefühl: „The race is just the reason for the party“

Der wahre Spaß und Nervenkitzel des Longboardens entfaltet sich beim sogenannten Downhillfahren, also der temporeichen Abfahrt auf steilen, kurvigen Straßen. Und davon gibt es dank der Kessellage in Stuttgart mehr als genug. Als Eugen Forschner sich im Jahr 1998 das erste Mal auf eines der überlangen Rollbretter stellte, war die Zahl der Fahrer in Stuttgart noch überschaubar. Er und eine Handvoll sportbegeisterter Kumpels hatten damals keine Lust auf gewöhnliche Skateboards. Sie lockte das Surfgefühl auf dem Asphalt. „Die Kids fuhren Skateboard, wir waren damals aber schon eher ältere Semester“, erzählt er. Auf unzählige „Races“, also Rennen, sind sie gefahren – und das weltweit.

„Früher“, sagt Eugen Forschner, „stand das Family-Ding im Vordergrund.“ Das Gemeinschaftsgefühl wird in der Stuttgarter Szene, die zu den ältesten in Deutschland gehört, bis heute großgeschrieben. Es geht um Spaß, nicht um Kommerz. Teure Markenklamotten, wie sie andere Trendsportmilieus prägen, sind den Longboardern nicht wichtig. „The race is just the reason for the party“, sagt Forschner. Das heißt so viel wie: Das Rennen ist nur der Vorwand zum Feiern. In seinem Longboarderumfeld hat er seine Freundin kennengelernt und so manche Freundschaft gefestigt. Gegen ein teures Outfit von Edelherstellern spreche schon der Verschleiß an Hosen beim Downhill, denn der sei ohnehin enorm hoch, erzählt Maike, die seit sechs Jahren in Stuttgart auf dem Rollbrett unterwegs ist. Da sich die Fahrer tief in die Kurven legen – auch mal zu tief –, fordert der raue Straßenbelag seinen Tribut. Denn wie im Wasser schafft man auch auf dem Asphalt nicht jede Welle. Downhill-Fahrer erkennt man an den zerfetzten Hosen, die sie mit Lederstücken flicken. „Das hält am besten“, sagt Maike.

Die deutsche Longboard-Szene wächst

Vor ein paar Jahren wurden Eugen Forschner und seine Gefährten etwas übermütig. „Wir haben den sogenannten ,Freibrettlauf im Stutengarten‘ veranstaltet und Flyer gedruckt“, erzählt er. Da standen plötzlich lauter Skater und deren Anhang auf der Matte – aber auch die Polizei. Das Ordnungsamt drohte mit Geldbußen. „Als die Polizei abgerückt ist, sind wir einfach den Berg runtergefahren.“ Niemand habe etwas angestellt oder Dreck hinterlassen, betont Forschner.

In den vergangenen fünf Jahren ist die Szene in Deutschland kräftig gewachsen. Forschner ist davon überzeugt, dass er zurzeit vom Verkauf der Rollbretter leben könnte. Doch er verlässt sich nicht auf den Trend, und so gibt es in seinem Laden am Berliner Platz neben den Longboards auch Kletter- und Snowboardausrüstungen. Die gefährlichen Abfahrten überlässt er heute der nachfolgenden Generation. Wenn man Vater geworden ist, verschieben sich eben die Prioritäten.

Die jungen Wilden sind auch international erfolgreich

Doch an jungen Wilden mangelt es im Kessel nicht. Etwa an der Alten Weinsteige. Die steile Straße, die von Degerloch zum Marienplatz führt, auf einem Longboard herunterzufahren, trauen sich nur Könner wie Jakob Raab, Sebastian Hertler und Leon Ritter, der wegen der optimalen Trainingsbedingungen sogar von Berlin nach Stuttgart gezogen ist. Hier könne er seine Fahrtechnik verbessern, sagt Ritter.

Jakob Raab, Sebastian Hertler und Leon Ritter sind international erfolgreiche Fahrer. Die drei ziehen ihre Helme auf und geben Gas. Locker überholen sie die Zacke, man sieht, wie die Fahrgäste ihnen fasziniert hinterherschauen.

Trotz Geschwindigkeitsrausch: Kontrolle ist wichtig

Hertler, 25 Jahre alt, ist kürzlich Deutscher Meister im Downhill geworden. Nicht das Gewinnen sei ihm wichtig, sagt er, sondern der Wettkampf – was natürlich bedeutet: Er will immer der Schnellste sein. Als Lohn für den Sieg gibt es Ruhm, Ehre und vielleicht auch mal einen Pokal. Davon kann sich Hertler jedoch nichts kaufen. Schon gar nicht ein Profi-Longboard, das etwa tausend Euro kostet und eine Spitzengeschwindigkeit von 130 Stundenkilometern ermöglicht. Hertlers persönlicher Rekord liegt bei 126 Sachen. „Wir sind Deutschlands, vielleicht sogar Europas schnellstes Team“, sagt er.

Longboarder sind nicht lebensmüde, sie rasen nicht planlos die Straßen runter. „Das hat viel mit Kontrolle zu tun“, sagt Hertler, „die meisten Leute verstehen das nicht.“ In Stuttgart sieht man Sebastian Hertler, Jakob Raab und Leon Ritter zurzeit übrigens nur selten: Alpenpässe bieten noch größere Herausforderungen als der Talkessel.

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